22 Bahnen
Tildas Tage sind strikt durchgetaktet: studieren, an der Supermarktkasse sitzen, sich um ihre kleine Schwester Ida kümmern – und an schlechten Tagen auch um die Mutter. Zu dritt wohnen sie im traurigsten Haus der Fröhlichstraße in einer Kleinstadt, die Tilda hasst. Ihre Freunde sind längst weg, leben in Amsterdam oder Berlin, nur Tilda ist geblieben. Denn irgendjemand muss für Ida da sein, Geld verdienen, die Verantwortung tragen. Nennenswerte Väter gibt es keine, die Mutter ist alkoholabhängig. Eines Tages aber geraten die Dinge in Bewegung: Tilda bekommt eine Promotion in Berlin in Aussicht gestellt, und es blitzt eine Zukunft auf, die Freiheit verspricht. Und Viktor taucht auf, der große Bruder von Ivan, mit dem Tilda früher befreundet war. Viktor, der – genau wie sie – immer 22 Bahnen schwimmt. Doch als Tilda schon beinahe glaubt, es könnte alles gut werden, gerät die Situation zu Hause vollends außer Kontrolle.
Das Buch 22 Bahnen gehört zu den ungewöhnlichen Büchern. Wir begleiten Tilda einen kurzen Lebensabschnitt durch ihren Alltag – ein Alltag der zeigt wie komplex das Leben sein kann und welchen Herausforderungen sich auch schon junge Leute stellen müssen. Das Leben mit der alkoholkranken Mutter ist anstrengend und aufreibend, aber trotzdem liebt Tilda ihre Mutter. Das Buch zeigt auch Tildas Zerissenheit zwischen der Lust auf Partys und unbeschwertes Leben, dem Ehrgeiz im Studium und der Verantwortung für ihre Schwester, die mit den Eskapaden der Mutter nicht zurecht kommt. Besonders macht das Buch der Schreibstil der Autorin. Die Sprache ist klar und direkt. Die Geschichte trieft nicht vor Mitleid, sondern zeigt nüchtern Tildas Leben. Zahlen werden immer als Ziffern geschrieben – passend zu Tildas Mathematik-Talent, ungewohnt beim Lesen. Herrlich auch Tildas Hobby: An der Supermarktkasse scannt sie alle Teile auf dem Kassenband, ohne den Einkäufer anzuschauen. Dabei versucht sie zu erraten, was für ein Typ gerade vor ihr steht und lässt sich beim Nennen der zu bezahlenden Summe überraschen, ob sie richtig gelegen hat. So liest man schonmal eine viertel Seite lang eine Aufzählung von Supermarktartikeln. Das ist aber nicht langweilig, sondern macht das Buch lesenswert. Die Summe aus Geschichte, Schreibstil und ungewohnten Ideen macht das Buch so ungewöhnlich. 22 Bahnen ist das erste Buch der 1995 geborenen Autorin.
Das Buch hat 2023 den Preis „Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels“ gewonnen.
Empfohlen von Birgit Rünker
22 Bahnen – Caroline Wahl
Gebunden 22,00 € – DuMont Buchverlag